
Am Ende weinen eben manchmal auch die ganz harten Kerle: Mit dem feurigen Hardrockepos „Zitti e buoni“ (Still und fügsam) hat die ganz und gar nicht stille und fügsame Rockband Måneskin aus Italien den Eurovision Song Contest 2021 gewonnen. Mit 524 Punkten landete die Gruppe am Ende nur 25 Punkte vor der Französin Barbara Pravi mit ihrem spartanisch inszenierten, berückend gesungenen Chanson „Voilà“. Auf Platz drei stand am Schluss der wunderbar verrätselt-androgyne Schweizer Gjon’s Tears mit seinem schmerzensreich-schwarzweißen Liebesepos „Tout l’univers“ (432 Punkte). Italien galt als Favorit. Italien kam, sah und siegte.

Und Deutschland? Muss einen weiteren ESC-Nackenschlag einstecken. Der Hamburger Sänger Jendrik Sigwart (26) nahm am Ende ganze drei Mitleidspunkte nationaler Jurys mit – zwei aus Österreich, einer aus Rumänien. Vom europäischen Publikum kamen exakt 0 (in Worten: null) Punkte für ihn. Das bedeutete am Ende Platz 24 von 25. Nur England, das Mutterland des Pop, schnitt noch schlechter ab: null Punkte. Letzter Platz. Das hiesige ESC-Elend setzt sich also fort: Bei den letzten sechs Song Contests war Deutschland nun zweimal Letzter und dreimal Vorletzter. „Ich habe mich sehr wohlgefühlt mit mir“, sagte Sigwart nach seinem Auftritt trotzdem in galgenhumoriger Gelassenheit. „Ich bin happy.“
Dritter ESC-Sieg für Italien
Die charismatischen Italorocker von Måneskin dagegen, zuvor Sieger des traditionsreichen Musikfestivals von San Remo, sicherten Italien den insgesamt dritten ESC-Triumph. Zuletzt holte sich 1992 Sänger Toto Cutugno in Zagreb mit dem Titel „Insieme“ den Sieg. Die Band, die über die Bühne irrlichterte wie Freddie Mercury in seinen besten Tagen, ist nach dem dänischen Wort für „Mondschein“ benannt (die Bassistin Victoria De Angelis ist Dänin). Måneskin zeigten in Rotterdam ein überhaupt nicht ironisch gemeintes, glühend rotes Latzhosenspektakel, bei dem sie keine Gefangenen machten.

Es war ein sehr stabiler ESC-Jahrgang mit geringer Quarkdichte und originellen Höhepunkten. Wegen positiver Coronatests fielen der Auftritt des ESC-Siegers von 2019, Duncan Laurence, sowie die Performance des isländischen Sextetts Daði og Gagnamagnið aus, stattdessen lief ein Probenvideo. Am guten Abscheiden änderte das nichts: Island kam mit seiner nerdig-stabilen Eletropopnummer inklusive sympathischer Pixelpullis und 360-Grad-Keyboard als Favorit der Herzen auf Platz vier (378 Punkte). Was für ein sympathischer Haufen fröhlich-erratischer Verrückter im besten Sinne. Es dürften auch ein paar Corona-Mitleidspunkte im Spiel gewesen sein.
Warum scheiterte Deutschland erneut?
1. Offenbar stand dem pandemiemürben Kontinent der Sinn nicht nach Gaga. Stattdessen kamen die emotional glaubwürdigen und komplexen Titel von Italien, Frankreich, der Ukraine und der Schweiz weit – allesamt musikalisch anspruchsvolle und hoch originelle Beiträge, die die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Entertainment auf viel modernere Weise hielten als Jendrik Sigwart mit seinem quietschbunten Ententanz. Auch das deutsche Publikum vergab seine Punkte vor allem an Acts, die das, was sie taten, ernst meinten: 12 Punkte an Litauen, 10 an Frankreich, 8 an Finnland und 7 an Italien.
2. Es ist kein Tanzwettbewerb. Der 26-jährige hatte eine derart aufwändige Tanzperformance samt Stepeinlage zu absolvieren, dass er hörbar außer Atem war. Keine gute Idee bei einem Wettbewerb, der seine Wurzeln dann doch irgendwie in der Musik und im Gesang hat.
3. Es war ein sehr starker Jahrgang. Der ESC 2021 war mit Abstand der interessanteste Wettbewerb seit Jahren. Das musikalische Niveau war hoch – so hoch, dass Jendrik Sigwart mit einer doch eher konventionellen und wenig modernen Komposition einfach durchfiel. Das darf keine Entschuldigung sein. Das deutsche ESC-Team hat den Anschluss an zeitgenössische europäische Popmusik vollständig verloren.
Und die Fremdschäm-Momente? Gab es auch, gewiss. Was wäre diese paneuropäische Geschmacksexplosion ESC ohne ihre „Das meinen die nicht ernst, oder?“-Augenblicke. Unklar blieb, warum die Frisur der Israelin Eden aussah wie das schmiedeeiserne Schmuckelement eines Zaunes um ein hochherrschaftliches Anwesen (Platz 17). Oder warum die Russin Manizha („Russian Woman“) aus einem überdimensionalen begehbaren Kleid schlüpfte. Ein Symbol für das erlösende Abstreifen der russischen Vergangenheit? Oder für die Befreiung der Frau aus dem bunten Kokon männlichen Erwartungsdrucks? Optisch originell, aber doch eher sperrig – im Wortsinne.
Fremdscham-Momente aus Russland und Israel
Der Lohn für die in rechtskonservativen Kreisen zu Hause heftig diskutierte Performance der starken Sängerin: Platz 9. Eher anstrengend waren auch die drei serbischen Kim Kardashians beim kollektiven Glamourheadbanging (Platz 15) und die seltsame Inszenierung des ukrainischen Beitrags „Shum“ der Gruppe Go_A mit Federkleid und strengem Lehrerinnenblick. Das passte so gar nicht zum dem hoch komplexen Song, der aber trotzdem eine eigenwillige Sogwirkung entwickelte und der Ukraine am Ende einen starken Platz 5 sicherte.

Vor einem Jahr war der geplante Song Contest noch pandemiebedingt ins Wasser gefallen – erstmals in seiner Geschichte. Jetzt jedoch durften sogar 3500 Zuschauer die Show frisch getestet und ohne Mundschutz live verfolgen. Ein umstrittener Umstand, den auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach zuvor als „falsches Bild“ gegeißelt hatte. Es waren Szenen wie aus einem anderen Jahrzehnt: jubelnde und singende Menschen aus bis zu 3500 Haushalten in einem Raum, Schulter an Schulter. Das niederländische Kultusministerium hatte die Supersause rechtzeitig zu einem „Fieldlab Experiment“ für seuchensichere Großereignisse ausgerufen. Fast 30.000 Coronatests mussten auch die Künstler, Crewmitglieder, Delegationen und Journalisten in sechs Wochen Aufbau- und Probenzeit über sich ergehen lassen.
Stulpenstiefel, Lasergitter und Silberfetzenkleider
Was rund 180 Millionen Zuschauer sahen: jede Menge Stulpenstiefel, Lasergitter und Silberfetzenglitzerkleider, außerdem eine ganze Reihe von Oden an die weibliche Selbstermächtigung, darunter den Beitrag der 18-jährigen Sängerin Destiny aus Malta, deren „Je me casse“ (etwa: Ich verziehe mich) eine musikalische Backpfeife an miese Machos mit ihren dummen Anmachsprüchen war. Sie hatte sich sichtlich mehr erhofft als Platz 7 (255 Punkte). Schönster Comedy-Moment war zweifellos die Punktevergabe aus Island: Die Wertung von dort vergab der zum Kult gewordene „Jaja Ding Dong“-Mann aus dem ESC-Film „The Story of Fire Saga“ von US-Komiker Will Ferrell.

Es war kein normaler Song Contest. Wie ein weißer Elefant stand Corona im Raum, schwebte über allem, definierte die Abläufe und die Stimmung. Es war das erste multinationale Großereignis nach Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020. Trotzdem gelang es der Europäischen Rundfunkunion (EBU) als Veranstalter, 180 Millionen Zuschauern vier Stunden der Leichtigkeit zu vermitteln, eine fröhliche Ahnung davon, dass die Lust auf Livespektakel, die Sehnsucht nach gemeinschaftlichen „Hach“-Momenten und kollektivem Erleben selbstverständlich nicht final versiegt ist, sondern ganz im Gegenteil brodelt und gärt.
Mit einem guten Beitrag kann jedes Land gewinnen
Dass niemand Deutschland liebt, ist schlicht nicht wahr. Mit einem guten Beitrag kann jedes Land gewinnen. Wenn man den ESC als Spiegel der kontinentalen Befindlichkeiten liest, stand Europa der Sinn einfach nicht nach Ironie und offensivem Quatsch – und sei die subtile Botschaft noch so wichtig. Die ESC-Fans dürstete es dagegen offenbar nach Versöhnlichkeit und musikalischer Tiefe, nach Lust am Gesellschaftsspiel mit den Klischees und nicht nach besinnungsloser Party mit Riesenhand und Steptanz. Steptanz! Ernsthaft?
Es war ein Fest der Musik und der Vielfalt, dessen größter Erfolg schon darin bestand, dass es überhaupt stattfinden konnte. Denn der mächtigste Gegner in diesem Wettbewerb war nicht Polen, Spanien, Finnland oder Frankreich. Sondern Corona. Mit seinem Hygienekonzept könnte das Event zur Blaupause für andere internationale Großereignisse werden. Gewiss wird man auch bei der UEFA ganz genau hingesehen haben, was in Rotterdam passiert. Es sind noch 27 Tage bis zur Fußball-Europameisterschaft.