Ob sie sich wohl kannten? Nicht unwahrscheinlich. Gerhardus Heinrich Schulze Capelle wurde Ende 1793 in Capelle geboren, sein Namensvetter Gerhardus Henricus Reer im Frühjahr 1791 in Werne. Beide trennten nur zwei Jahre und zehn Kilometer - aber eine Front, die sich quer durch Europa zog.
So sieht ein ausgefülltes Personalblatt für die Ahnentafel aus.
Gerd, der Held: Diesen Titel verliehen die damaligen Chronisten nur dem einen. Den anderen strichen sie aus dem öffentlichen Gedächtnis, wenn er da überhaupt je einen Platz hatte.
Robert Becker (76) findet das ungerecht. Der akribische Familien- und Heimatforscher hat die Lebensgeschichten der zwei Männer erforscht. Beide bedeuten ihm etwas: Reer als sein Ururgroßonkel, Schulze Capelle als Ururgroßvater seiner Ehefrau. Und beide als typische Vertreter einer Generation, die das Pech hatte in einer Epoche der Umbrüche heranzuwachsen.
Werne auf der Schwelle ins 19. Jahrhundert
Werne kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert: Unruhige Zeiten dämmern für die nicht einmal 3000 Bewohner - um die 1000 in der Stadt selbst, die anderen verteilt auf die elf Bauerschaften einschließlich Capelle.
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation liegt nach 800 Jahren in seinen letzten Zügen. Der letzte Fürstbischof von Münster ist schon 1801 gestorben. 1802 wird sein Fürstbistum ihm folgen. Das katholische Werne fällt an die protestantischen Preußen. Für viele ein Schock.
Münsterländer freuen sich über Franzosen - aber nur kurz
Als die ungeliebten neuen Machthaber vier Jahre später bei Jena und Auerstedt eine verheerende Niederlage erleiden, ziehen Franzosen in Berlin ein - auch in Werne. Die Münsterländer jubeln. Schließlich gelten Franzosen als gute Katholiken, Schnell folgt aber die Ernüchterung.
Denn die Säkularisation, die Aufhebung der Klöster, geht auch unter Napoleon weiter. Und Werne wird 1808 ausgerechnet mit dem ungeliebten Nachbarn, der Grafschaft Mark, dem Ruhrdepartement mit Sitz in Dortmund eingegliedert - unter dem Dach des neuen Großherzogtums Berg.
Dem Kaiser aus Paris genügt es aber nicht, nur die Verwaltungsstrukturen auf den Kopf zu stellen, er krempelt auch gleich die ganze Gesellschaft um: befreit die abhängigen Bauern, emanzipiert die Juden, hebt die alte Zunftordnung auf - und zieht immer wieder in den Krieg. Innerhalb von nur acht Jahren erleben die Werner mehr Veränderungen als ihnen lieb ist. Nicht nur die beiden Gerds wird das aus der Bahn werfen - den etwas älteren gezwungener Maßen, den jüngeren freiwillig.
So sieht die Napoleon-Ausstellung in Cappenberg aus
Bis zum 21. September 2014 geht noch die Ausstellung "Wider Napoleon" auf Schloss Cappenberg in Selm. In unserer Fotostrecke geben wir einen Einblick, was die Besucher der Ausstellung erwartet.
Jahrelange historische Recherche in einem Pappkarton
Robert Becker sitzt am Küchentisch und hat einen weißen Din-A-4-großen Pappkarton vor sich stehen. “Napoleon” steht mit Bleistift am Rand notiert. Er öffnet den Deckel. Darunter liegen hunderte, säuberlich geordnete Zettel: ausgefüllte Personalblätter für die Ahnentafel mit Quellenangaben, Abschriften aus Kirchenbüchern, Militärlisten, Kopien und mehr: das Ergebnis jahrelanger Recherche, mit dem sich beides skizzieren lässt: sowohl das Leben des Siegers Gerd als auch das des Verlierers Gerd.
“Die Deserteursteckbriefe aus dem Werner Archiv sind ja bekannt”, fängt Becker an. Tatsächlich: Immer wieder - zuletzt in der großen Ausstellung “Wider Napoleon” 2014 auf Schloss Cappenberg - werden sie gerne gezeigt: Dokumente des zivilen Ungehorsams gegen eine Politik, die junge Männer zum Kanonenfutter für einen Herrscher mit Größenwahn machen wollte.
Seit 1808 gab es im Großherzogtum eine Feldgendarmerie, die nur den Zweck hatte, untergetauchte Wehrunwillige aufzuspüren. Manche Offiziere drohten, Eltern und Geschwister zu inhaftieren, bis die Söhne und Brüder endlich in die Armee eintraten. Ob es bei Gerd Reer so weit kommen musste?
Von 5000 Soldaten kehrten weniger als 300 zurück
“Wir wissen nur, das er zwangsrekrutiert wurde”, sagt sein Ururneffe. Der Zettel, von dem er liest, ist so kurz wie Reers Leben: kein Eintrag unter der Rubrik Heirat, keiner bei Beruf. “1812 bei Kursk in Russland zu Tode gekommen”, liest Becker nur vor. Der Werner starb 21-jährig als bergischer Mineur, also als ein Pioniersoldat, der die Aufgabe hatte, durch das Graben von Stollen den Zugang für einen möglichen Überraschjungsangriff zu schaffen: ein Himmelfahrtskommando. Die Revolutionskriege und Befreiungskriege forderten geschätzt fünf Millionen Opfer.
Allein die Katastrophe von Napoelons Winterfeldzug 1812/13 überlebte nur ein Bruchteil der Teilnehmer. Von den 5000 bergischen Soldaten und Offizieren kehrten nicht einmal 300 zurück - Reer gehörte nicht dazu. Wie viele andere Werner mit ihm auf Seiten der Franzosen fielen, ist unbekannt. “Das hat noch niemand erforscht”, sagt Becker. Er wisse aber von mindestens vier anderen. “Und Zweien, die vor Moskau die Seiten gewechselt haben”
Bewog ihn die Abenteuerlust, in den Krieg zu ziehen?
Der andere Gerd hatte mehr Glück - zumindest auf dem Schlachtfeld. Das Leben meinte es zunächst nicht so gut mit ihm. Robert Becker liest vor: “Geboren als achtes Kind des Schulze Capelle”. An Essen und Kleidung werde es dem Jungen auf einem als wohlhabend geltenden Schulzenhof kaum gefehlt haben, “wohl aber an Perspektive”. Selbst einmal das große Anwesen zu verwalten, sei für einen Nachgeborenen nicht in Frage gekommen.
War es also Abenteuerlust, die Gerd Schulze Capelle bewog, sich für den Landsturm zu melden? Oder doch der Wunsch, die erwachende Nation von der Fremdbestimmung zu befreien. Oder hat er sich nur von der Begeisterung der 156 anderen Freiwilligen aus Stadt und Bauerschaften, darunter auch sein Cousin, mitreißen lassen? Becker lächelt. “Das muss Spekulation bleiben.” Er hält sich lieber an die Fakten.
Napoleons politisches und militärisches Ende vollzog sich in zwei Akten. Am ersten Akt - der Besetzung von Paris im März 1814 und der Verbannung des Korsen auf die Insel Elba - hatten Schulze Capelle und die anderen noch keinen Anteil. Aber am zweiten Akt.
Die feierliche Rückkehr nach Werne
Am 16. Juni 1815 kämpft Gerd im vierten preußischen Infanterieregiment unter General Blücher im wallonischen Ligny. 150.000 Männer stehen sich im Feld gegenüber. 25.000 fallen. Gerd überlebt. Doch Napoleons Herrschaft der 100 Tage, die im März 1815 nach seiner Rückkehr aus der Verbannung begonnen hatte, ist noch nicht beendet. In Ligny sind die Preußen die Unterlegenen. Erst zwei Tage später gelingt es General Wellington bei Waterloo, die napoleonische Ära endgültig zu beenden - dank der Unterstützung der zur Hilfe eilenden Preußen unter Blücher - und mit Gerd Schulze Capelle.
Ein Jahr später im Herzen Wernes: Gerd, der Überlebende, steht zusammen mit den anderen Rückkehrern aus Belle Alliance - so nennt man damals nach einem Lokal am Schlachtfeld noch Waterloo - in der Christophorus-Kirche. Draußen drängen sich auch noch Menschen. So groß ist die Anteilnahme. Es gilt die Helden der jungen Nation zu feiern und der gefallenen Vaterlandsverteidiger zu gedenken, wie die Vikare Overhage und Brüggemann 1843 in ihrer “Chronik der Stadt Werne” schreiben werden. Von Gerd, dem Zwangsrekrutierten, der vor Moskau starb, ist da nicht die Rede.
Und auch nicht von dem Leben der Helden nach der Feierstunde. Robert Becker weiß mehr. “Außer Lob hat Schulze Capelle nichts bekommen.“ Der Sohn eines wohlhabenden Bauern musste als Tagelöhner arbeiten. 1820 heiratete er eine Kötterstochter in Nordkirchen und starb dort 1855. In Geschichten und Liedern lebte er aber weiter, anders als sein Namensvetter.